28. Oktober 2019
18,3 x 12,2 cm, um 1300 n.Chr, Europa
Es handelt sich um eine Seite aus einer lateinischen Bibel, auf der die Erfahrung des Apostels Paulus vor Damaskus geschildert wird, wie er vom Pferd stürzt, als er eine Stimme hört und ein Licht sieht und vernimmt: „Saul, Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Es war die Stimme Jesu Christi. Saulus wurde für drei Tage blind, so heißt es in der Apostelgeschichte 9, und er wandelte sich durch diese schwerwiegende Erfahrung vom Saulus zum Paulus.
Die gotische Perl-Schrift ist von großer Feinheit, Klarheit und Ruhe. Die Farben sind Schwarz und Rot, und die hermetische Malerei, die den Schriftblock begleitet, ist von Gold, Blau und Weiß dominiert. Die Szene ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Dargestellt ist, wie Paulus vom Pferd stürzt mit der visionären Erfahrung, die sein Wesen, Glauben und Handeln zutiefst verwandelte.
Auf der linken Seite vom Schriftblock schimmert die Schrift mit der folgenden Seite durch. Die Schrift ist aus dem Zentrum des Blattes gerückt und deutet damit das Drama der Handlung an.
Schrift und Miniatur scheinen einer nicht alltäglichen Welt anzugehören, einer geistigen Welt, die der Leser und Betrachter in dem Moment der Lektüre betritt.
8. August 2019
Griechenland, Lekythos Höhe 29,7 cm, Durchmesser ca. 9 cm, ca. 470 v. Chr.
Bei den Athenern, heißt es, galt der Töpfer mehr als der Maler. Aber wie geht der Wettstreit der Künste bei dieser Ölvase aus? Beim jüngsten Neuzugang der Sammlung lässt sich das nicht entscheiden, denn sie beflügeln sich gegenseitig.
Diese Vasenform, genannt Lekythos, steigt auf vom Fuß: straff, schlank und in sich gefestigt. Der Fuß verbindet den Corpus mit der Erde und erhebt sich federnd über die `empfundene´ Einziehung. Der Corpus steigt schnell und selbstgewiss zur Schulter auf, um sich ruhig zum Hals zusammenzuziehen und dann über einen kleinen Absatz sich zur genau abgestimmten Lippe zu erweitern. Die Gesamtform zeigt sich ohne Speck oder Magerkeit. Charmant sitzt der Henkel zwischen Hals und Corpus, er verbindet beides und lädt die Hand zur Berührung ein. Nicht so der Abstieg: er ist straff-kühn, aber nicht frei von Zögern. Zögern im Bereich von Henkel, Hals und Schulter. Stärker ist das Hinauf als das Hinab.
Die rotfigurige Malerei zeigt eine sehr fein gemalte (männliche oder weibliche?) Figur mit ausgestrecktem linken Arm, der wohl eine Opferung andeutet. Die Figur träge einen Himation (Mantel) und einen unbekannten Gegenstand vor der Brust.
Bei den Athenern galt der Töpfer, so las ich, mehr als der Maler, aber der Topf entsprach dem Kanon und der Tradition. Die Malerei war persönlicher und konnte leichter misslingen. Das Mäanderband, auf dem die Figur steht, war gewiss von anderer Hand als der Kopf, der mit spätarchaischer Meisterschaft gezeichnet ist. Kenner meinen, die Malerei stammte vom sogenannten ´Karlsruher Maler` um 470 v. Chr.
Die Vase war vollständig zerbrochen und ist meisterhaft restauriert worden. Da weiß ich nicht, was mehr Gewicht hat: der Vasenkörper oder die Malerei. Sie beflügeln sich gegenseitig.
Raimer Jochims, 6.8.2019
2. September 2018
Kleine Skulptur der Vinća-Kultur
Vinća war eine Großkultur im unteren Donauraum. Unser jüngster Neuzugang in der Sammlung zeigt eine kleine Figur mit erregtem Phallus und heiterem Ausdruck von Leib und Gesicht. Diese lebenszugewandte Darstellung der Sexualität ging im Abendland und in der Antike durch das Christentum verloren, das zutiefst leibfeindlich war und die Geschlechtskraft mit Sünde gleichsetzte. Die viel ältere Vinća-Kultur kennt diese negative Sicht noch nicht. Hier wird das Leben noch gefeiert.